In seinem kürzlich erschienenen Buch „Theorien des Internet zur Einführung“ (Junius-Verlag Hamburg 2011) beschreibt Martin Warnke Grundlagen und Phänomene des Internet, die trotz der fortwährenden Wandlungen dieses Mediums eher zeitlosen Charakter haben.
Als skalenfreies Netz verfügt das Internet über Eigenschaften, wie enorme Stabilität und Robustheit, ist heterogen, lässt Verbindungen über sehr kurze Wege zu und ähnelt in vielerlei Hinsicht gesellschaftlichen Vernetzungen. Netzknoten mit vielen Verbindungen haben überdurchschnittliche Anziehungskraft für „Friends“, Nutzer bzw. andere Webseiten. Bildlich kann man sich für diese Art der Verklumpung im Netz eine Pusteblume vorstellen – Schön!
Auch in der Gesellschaft kennen wir dieses Phänomen, daß Einzelpersonen oder Institutionen über weak ties oder eher oberflächliche, emotional schwache Beziehungen mit einer Vielzahl anderer Menschen verbunden sind. Denken wir an Stars, Partylöwen oder Ähnliches. Zu engsten und massivsten Verbindungen zählen dagegen nur wenige Auserwählte, z.B. die Familie, der enge Freundeskreis. Das ist im Web genauso. Zu Recht behauptet Martin Warnke, das Internet sei der Gesellschaft nachgebildet. Beschleunigung und Differenzierung nehmen zu, hier wie dort.
Geschichte, Technik, Ökonomie und Hypertext zählen zu den weiteren Themen dieses aufschlussreichen Einführungsbandes. Im letzten Kapitel kommt Warnke schließlich auf seine zentrale Theorie des Internets zu sprechen. Hier teilt er die Phänomenologie unseres Computer-Zeitalters in drei Phasen:
1. Synthetische Phase: Rechnerische Aufgabenlösung, lineare Verarbeitung, so wie sie schon mit der Turingmaschine erdacht wurde.
2. Mimetische Phase: Auf der Grundlage von Wieners Rückkopplungsschleife, hält das menschliche Bewusstsein Einzug in die synthetische Phase. Über spezielle Mensch-Maschine-Schnittstellen (->Interface) können Menschen jederzeit in laufende Prozesse eingreifen, indem sie beispielsweise Gegenstände auf dem Desktop verschieben und bekommen darüber ein Feedback.
3. Phase der Emergenzen: Die Komplexität des Netzes entsteht ohne direkt Vorhersehbarkeit, sie ist in der Struktur des Webs nicht direkt festgelegt, sondern etwickelt sich von Oben indem sie wechselnd auf bestimmte gegebene Bedingungen zurückgreift.
„Das Internet entfaltet ungeheure Komplexität. Die vormals, in den synthetischen und mimetischen Phasen, noch sinnvoll als isolierbare Elemente eines Prozesses beschreibbaren Bewusstseine und Automaten erzeugen mit starker Wechselwirkung unvorhersehbare Erscheinungen, weshalb diese dritte Phase auch die Phase der Emergenzen heißen soll. […] Die Theorie der Berechenbarkeit, zentral und erschöpfend für die erste, ist unzureichend, um die Lebensechtheit des Clownfischs Nemo zu erklären, und auch die Theorie der mimetischen Kontrolle ist restlos überfordert, die Emergenz etwa von eBay oder des gender swapping in Chatrooms der dritten Phase, der des Internet, vorherzusagen.“ (Warnke, Martin: Theorien des Internet zur Einführung. Hamburg 2001, S.160 f.)
Insgesamt verdeutlicht sich, dass technologische Errungenschaften zwar grundlegende Bedingungen des Internets sind, das Web aber eine eigene Dynamik geschaffen hat, mit Phänomenen, die so weder planbar noch vorhersehbar waren: „Es ist mit allem zu rechnen, vor allem mit dem Unberechenbaren.“
Link: Philosophisches Radio mit Martin Warnke (MP3 zum Herunterladen)
Nachtrag (15.06.2011): Hier und dort gibt es freundliche bis kritische Rezensionen zu „Theorien des Internet“.